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Was passiert eigentlich im Gehirn, wenn man liest?

Lesen ist immer ein Denken mit fremdem Gehirn, denn indem man sich in andere Welten des Denkens hineinbegibt und hineinversetzt, erhöht man die eigene Komplexität des Denkens. Man findet nach Precht zwar keine Antworten auf die Fragen des Lebens, doch man schult sein eigenes Denken und möbliert damit sein Bewusstseinszimmer.

In der ersten Klasse ist Lesen lernen zunächst eine Technik, d. h., man lernt, jedem geschriebenen Buchstaben einen Laut zuzuordnen, also A wie Apfel, B wie Banane und so weiter. Man kann davon ausgehen, dass man, wenn man 26 Buchstaben verinnerlicht hat plus einige Diphthonge, lesen kann. Dann fängt man an, sich Wörter zu er-lesen, d. h., sie zu dekodieren, indem man links anfängt und sich quasi selbst beim Dekodieren des Wortes zuhört, indem man Zeichen für Zeichen mit dem dazugehörigen Laut verbindet, bis die Laute hinterher zusammen einen Sinn ergeben. Erst nach und nach baut sich das Gehirn ein mentales Lexikon, was notwendig ist, dass etwa in der zweiten Klasse Kinder beginnen können, Wörter als Ganzes zu erfassen. Irgendwann erreicht man einen Punkt, an dem man diese Buchstabenkombination schon so häufig gelesen hat, dass man diesen Prozess des einzelnen Buchstabenverbindens gar nicht mehr braucht. Man fängt an mit den ersten drei Buchstaben und dann sagt das mentale Lexikon: „Ah, kenn ich! SPO, das muss Sport sein!“ oder noch später im Prozess, dass dann alle Buchstaben auf einmal erfasst werden. Das heißt, man liest nicht mehr seriell, sondern simultan. Hinter der Orthografie, also dem Bild der Buchstaben, ist im mentalen Lexikon die Bedeutung und die Aussprache des Wortes gespeichert. Das wird alles gleichzeitig abgerufen und geht eben sehr viel schneller, als wenn man sich das Buchstabe für Buchstabe erlesen muss, ganz besonders, wenn es sich um lange Wörter handelt. Um vom seriellen zum simultanen Lesen zu kommen, hilft nur häufiges Lesen. Je öfter man ein Wort geschrieben sieht, desto tiefer wird es in das Gedächtnis eingeschrieben und irgendwann muss man gar nicht mehr genau hindschauen, denn das Wort ist so tief verankert, dass man auch schon aus weiter Entfernung sehen kann, was da steht. Das heißt, dieser Eintrag im Lexikon wird immer tiefer und umso schneller kann er abgerufen werden. Bei einem geübten Leser landet das Auge ein- bis zweimal irgendwo im Wort und erschließt sich dann den Rest, abhängig von der Wortlänge. Dabei gibt es Wahrscheinlichkeiten, welches Wort folgt und welches Wort davor stand, sodass ein richtig geübter Leser überhaupt nicht jedes Wort lesen muss. So sind Präpositionen oder Artikel völlig klar, hier ist dieses Nomen als Objekt, da muss der Artikel so und so sein und wenn das Verb so und so ist, dann muss darauf auch die Präposition XY folgen. Das heißt, es wäre kein Informationsgewinn, da noch mal mit dem Auge drauf zu landen, sondern man macht den Sprung direkt größer. Um komplexe Texte möglichst schnell erfassen zu können, sollte man rechtzeitig für viele tiefe Einträge im Gehirn sorgen, also nicht nur viel lesen, sondern auch Texte, in denen immer wieder neue Wörter vorkommen. Je mehr Kinder der Schriftsprache ausgesetzt sind, desto besser sind ihre Voraussetzungen, gut lesen zu lernen.

Zusammengefasst nach einem Interview mit der Psycholinguistin Pauline Schröter für den NDR.

https://www.ndr.de/kultur/Schwerpunkt-Was-passiert-beim-Lesen-im-Gehirn,lesen306.html (19-04.23)