Für den Lernprozess von Kindern sind Flow-Erlebnisse von zentraler Bedeutung, also Momente, in denen Kinder ganz in einer Tätigkeit aufgehen, ohne Überforderung oder Langeweile zu erleben. Sie sind vollständig konzentriert, erleben sich als wirksam und schaffen Aufgaben aus eigener Kraft. Diese positiven Erlebnisse wirken sich nachweislich auf die intrinsische Motivation aus – also auf die Motivation, etwas aus eigenem Antrieb und Interesse heraus zu tun. Ein Flow-Erlebnis entsteht beispielsweise, wenn ein Kind allein durch einen Text lesen kann und dabei merkt: „Ich komme hier durch, ohne dass mir jemand hilft.“ Oder wenn ein Kind eigenständig ein Arbeitsblatt im Rechnen lösen kann und das Gefühl hat: „Das habe ich allein geschafft.“ Wichtig ist dabei, dass die Kinder die Aufgaben als herausfordernd, aber bewältigbar erleben – ohne ständige Unterstützung durch Erwachsene.
Ein häufiges Missverständnis besteht darin, dass Kinder motiviert seien, nur weil sie Aufgaben erledigt haben – selbst wenn sie dabei stark begleitet wurden. Wenn eine Bezugsperson bei jedem Schritt hilft, Hinweise gibt oder die Aufgabe anleitet, kann es zwar zu einem erfolgreichen Ergebnis kommen, doch das Gefühl von Selbstwirksamkeit bleibt aus. Das Kind erlebt nicht, dass es etwas selbst geschafft hat. Diese Hilfe ist zwar oft liebevoll gemeint, kann aber auf Dauer zu einer Abhängigkeit führen, bei der Kinder ohne Unterstützung kaum noch eigenständig handeln wollen oder können.
Ein Beispiel: Wenn ein Kind bei einer Rechenaufgabe immer wieder Tipps und Hinweise bekommt, ähnelt das der Situation, in der jemand bei der Arbeit ständig von einer Kollegin begleitet wird, die gut gemeinte Vorschläge macht. Zwar wird die Aufgabe erledigt, doch der Stolz über das selbst Erreichte fehlt – und mit ihm die Motivation, sich das nächste Mal erneut allein daran zu wagen.
Daher ist es besonders wichtig, Lernsettings zu gestalten, in denen Kinder Flow-Erlebnisse haben können. Das bedeutet z. B., beim Lesen Texte zu wählen, die viele Wiederholungen enthalten oder sprachlich so aufgebaut sind, dass schwierige Wörter klar gekennzeichnet sind. Ein Beispiel wäre ein Text über Tiere, in dem die Wörter „Löwe“ und „Tiger“ immer wieder auftauchen. Auch häufige kleine Funktionswörter sollten wiederholt werden, damit das Kind nicht ständig ins Stocken gerät. Manche schwierige Wörter können vorab hervorgehoben und durch den Erwachsenen vorgelesen werden, während das Kind den Rest des Textes selbst liest – so kann das Kind flüssig und erfolgreich lesen und hat ein echtes Erfolgserlebnis.
Beim Rechnen lässt sich ein ähnlicher Zugang finden: Ein Kind kann mit einem Arbeitsblatt arbeiten, das ausschließlich Aufgaben enthält, die es sicher lösen kann. Ziel ist es nicht, das Kind zu unterfordern, sondern ein Gefühl von Sicherheit, Kontrolle und Erfolg zu vermitteln: „Ich habe es geschafft, ohne Hilfe.“ Diese positiven Lernerfahrungen sind die Grundlage für die Entwicklung langfristiger Lernfreude und Motivation.
Wenn Kinder nie solche Flow-Erlebnisse machen, empfinden sie Lernen oft als mühsam, anstrengend oder sinnlos. Aussagen wie: „Lesen zur Entspannung? Das kann ich mir gar nicht vorstellen!“ sind ein Hinweis darauf, dass diese Kinder bisher kaum erlebt haben, wie erfüllend es sein kann, selbstständig zu lernen. Pädagogische Begleitung sollte deshalb nicht in erster Linie durch ständige Hilfe erfolgen, sondern durch eine kluge Gestaltung von Lernmaterialien und Rahmenbedingungen, die Flow-Erfahrungen ermöglichen.
Literatur
Csikszentmihalyi, M. (1990). Flow: The psychology of optimal experience. Harper & Row.
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (1985). Intrinsic motivation and self-determination in human behavior. Plenum.
Krapp, A.,& Weidenmann, B. (2006). Pädagogische Psychologie: Ein Lehrbuch. Beltz.
Wild, E., & Krapp, A. (1996). Grundlagen der Pädagogischen Psychologie: Motivation und Lernen in schulischen Kontexten. Beltz.
Stangl, W. (2015, 5. Juni). Lernen im Flow.
https:// lerntipps.lerntipp.at/lernen-im-flow.