Edu-Kinestetiker behaupten, dass die linke, rationale Hirnhälfte in unseren Schulen permanent überfordert wird und die rechte Hirnhälfte mit ihren kreativen und emotionalen Kompetenzen verkümmert. Schlussendlich kommunizieren beide Hirnhälften nicht mehr miteinander und daraus resultieren dann Lernfrust und Gedächtnisschwächen. Die Lösung dafür sind dann die Hemisphärenintegrationsübungen, bekannt unter dem Namen „Brain-Gym“. Dabei handelt es sich um gymnastische Übungen, bei denen die Mittellinie des Gehirns überquert werde und somit beide Hirnhälften gezwungen seien, wieder zu interagieren. Edu-Kinesteten beteuern noch dazu die neurowissenschaftliche Fundierung dieses Konzepts, doch ihre wenigen Verweise sind ebenso krude wie sachlich falsch. Einige ziehen sogar die Split-Brain-Untersuchungen des Neurologen Roger Sperry heran, um ihrer Behauptung von den beiden autonom arbeitenden Hirnhälften und den daraus resultierenden Integrationsstörungen Nachdruck zu verschaffen. Sperry hatte schweren Epileptikern in den sechziger Jahren den sogenannten Balken zwischen beiden Hirnhälften durchtrennt, um die Ausbreitung eines Anfalls von den einen auf die andere Hemisphäre zu verhindern. In der Folge dieses Split-brain zeigten seine Patienten in experimentellen Situationen bestimmte kognitive Ausfälle. Menschen denen das Lernen schwer fällt, verfügen aber in jedem Fall über eine intakte Verbindung zwischen beiden Hirnhälften. Es mag sein, dass Brain-Gym-Übungen wie andere Bewegungsübungen manchen Grundschulkindern gefallen, die theoretischen Annahmen der Edu-Kinestetik sind jedoch unhaltbar und deshalb ist der aktuelle Boom dieser Konzeptionen insbesondere im Bereich der Lehrerfortbildung bedenklich.
Nicole Becker schreibt dazu: „Besonders prominent auf diesem Gebiet ist die Autorin Vera Birkenbihl, die für sich beansprucht, den Begriff „gehirn-gerecht“ bereits im Jahre 1973 erfunden zu haben. Eine gehirngerechte Aufarbeitung von Lerninhalten führt laut Birkenbihl dazu, dass man den Lernstoff spontan verstehe und sofort ins Gedächtnis überführe („Einmal gehört oder gelesen = gemerkt!“). Gehirngerecht bedeutet hier vor allem, dass etwas Spaß bereiten muss.
Bei all den vergeblichen Versuchen, aus der Hirnforschung Strategien zum hirngerechten Lernen und Erziehen abzuleiten, wird beharrlich ausgeblendet, dass bislang keine neurowissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die grundsätzlich neue Sichtweisen auf Bildungs- oder Erziehungsprozesse eröffnen. Vielleicht erklärt das auch, weshalb einige der Ratgeberkonzeptionen seit nunmehr dreißig Jahren in weitestgehend unveränderter Form vorliegen. Was die Hirnforschung aktuell bereitstellen kann, ist die Beschreibung neurophysiologischer Korrelate zu einigen pädagogisch relevanten Phänomenen, die man bislang lediglich auf der Verhaltensebene untersuchen konnte. Das ist zweifellos interessant –- auch wenn sich daraus keine neuen pädagogischen Interventionsstrategien ableiten lassen.“
Klaus Samac konnte in einer österreichischen Studie (1992) nachweisen, dass Edu-Kinestetik die Schulleistungen nicht fördert, indem er zur Überprüfung der von Kinesiologen behaupteten Hypothese, Edu-Kinestetik fördere Schulleistungen, eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe aus der dritten Schulstufe mit einem standardisierten Schulleistungstest in Mathematik und Deutsch vortestete. Die Stichprobengröße betrug insgesamt 350 Probanden. Ein Brain-Gym-Übungsprogramm wurde in Zusammenarbeit mit einer in Kinesiologie ausgebildeten Ergotherapeutin ausgearbeitet. Mit den Schülerinnen und Schülern der Versuchsgruppe wurden diese Übungen für die Dauer von zehn Wochen durch die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer durchgeführt. Im Anschluss wurden wieder beide Gruppen getestet. Mit Hilfe der multivariaten einfaktoriellen Kovarianzanalyse mit zweifach abgestuftem Faktor konnte ein Einfluss der Edu-Kinestetik in Form von Brain-Gym nicht nachgewiesen werden. Die Versuchs- und die Kontrollgruppe unterschieden sich nicht signifikant voneinander.
Quellen: Becker, Nicole (2008). Reißt die Zeitfenster zum Lernen auf!
WWW: http://www.faz.net/
Samac, Klaus (1992). Edu-Kinestetik fördert Schulleistungen nicht.
WWW: http://stud.paedak-krems.ac.at/~ksamac/Post_Edu-Kin.pdf (04-06-08)
Herzlichen Dank für diesen Bericht zur Edu-Kinestetik! Es ist ein solcher Humbug, der da mit Kindern getrieben wird und letztlich auch mit den Lehrerinnen und Lehrern! Einfach einmal am Unterrichtsbeginn die Fenster aufmachen, aufstehen, die Augen schließen und zehn Mal tief ein- und ausatmen hat den selben Effekt wie diese albernen Übungen.